Kunst für alle, inklusive Kunst
Immer wieder widmen sich Galerien, Museen und Sonderausstellungen der Kunst von Menschen mit besonderen Fähigkeiten – auch wenn sie landläufig als „behindert“ gelten. Am KulturOrt Wintringer Kapelle, diesem eindrucksvollen Ort der Kunst und der Kultur in der Region Saarbrücken und im UNESCO Biosphärenreservat Bliesgau, gab es zum Ausklang des Jahres 2023 wieder ein solches inklusives Kunstprojekt. Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, Schulen und spezielle Ateliers fördern die künstlerische Tätigkeit, insbesondere das bildnerische Gestalten dieser Menschen. Manche von ihnen scheinen mit ganz besonderen Fähigkeiten begabt, ihr Umgang mit Farbe, Form und Inhalt ist bemerkenswert – ganz unabhängig von ihren sonstigen Fähigkeiten.
Die Einfachheit des Raumes, die Ruhe, die von ihm ausgeht, ließ mich an „Stille Räume“ denken, wie wir sie immer wieder für Menschen mit speziellen Beeinträchtigungen gerne hätten. Räume, die nicht ablenken, Räume in die man sich zurückziehen kann, Räume, in denen man sich ganz still mit etwas beschäftigen kann - vielleicht auch mit einem Kunstobjekt. Ein leerer Raum, ein Objekt, ein Mensch.
Prof. Dr. Andreas Fröhlich
Nun sind aber nicht alle Menschen gleichermaßen zu künstlerischem Ausdruck befähigt. Viel mehr Menschen gehen in Museen, Ausstellungen, in Galerien und auch Kirchen, um sich Kunst anzusehen als Kunst selbst „herzustellen“. Sie möchten sich an alter oder neuer Kunst freuen, sich anregen lassen, erfahren, was es Neues gibt. Sie möchten schauen, sich überraschen vielleicht auch provozieren lassen. Sie möchten an Kunst partizipieren
Partizipation am kulturellen Erbe der Menschheit … ist meine persönliche Definition von Bildung. Teilhaben können an dem, was Menschen gedacht, geschrieben, komponiert, analysiert, konstruiert oder formuliert haben. Dazu gehört auch alles das, was wir als Kunst bezeichnen: Musik, Gedichte, Tanz, Theater, Oper, Malerei, Bau und Skulptur. Mit dem Beginn seiner Menschwerdung hat der frühe Mensch bereits kleine Figürchen aus Knochen geschnitzt, hat Symbole geschaffen, hat Wände mit Abbildungen bemalt und so Kunst geschaffen. Kunst gehört offenbar zum ältesten kulturellen Erbe der Menschheit.
Einschränkungen
Wie ist es um den Zugang zur Kunst, zu Kunstobjekten für Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen bestellt? Schon für blinde oder stark sehbeeinträchtigte Menschen wird es schwer, manchmal gibt es spezielle Führungen in Museen, bei denen sie Objekte befühlen dürfen. Die Hände in weißen Bauwollhandschuhen, damit die Kunstobjekte nicht mit Haut in Kontakt kommen. Aber auch die Haut kommt nicht mit den Objekten in Kontakt, es ist ein indirektes Spüren und Fühlen, als würden sehende Menschen durch eine leicht milchige Scheibe schauen müssen.
Bilder und Farben werden für Nichtsehende sprachlich erklärt, aber was ist das gesprochene GELB für jemanden, der Gelb nie gesehen hat? Manchmal werden auch speziell geprägte Folien angeboten, auf denen man Konturen ertasten kann, die dem entsprechen sollen, was auf einem Bild zu sehen ist.
Es fällt schwer, sich vorzustellen, welchen Eindruck Kunst dann noch erzeugen kann.
Für Menschen mit schwereren, mehrfachen Beeinträchtigungen gibt es fast keine Zugangsmöglichkeiten, Partizipation an diesem Erbe, auch in einfachster Form, bleibt Ihnen verwehrt: sie dürfen ein Objekt nicht berühren, nicht in den Arm nehmen, ganz nah dran gehen, um zu schnuppern oder zu spüren. Nur ansehen wäre erlaubt. Kunst ist in unserer Kultur etwas zum Anschauen, etwas, zu dem man einen gewissen Abstand halten muss. Aber sehr viele von Ihnen können sich kaum visuell orientieren, d.h. ihr Sehen bietet ihnen keine nützliche Information. Und dazu kommt, dass manche von Ihnen auch Sprache nicht verstehen, so dass wir nicht wissen, wie sie Ihre Umwelt und die Menschen darin wahrnehmen. Wie könnten sie Kunst begreifen?
Kunst begreifen
Eine doppelte Bedeutung, die sich aus sich selbst heraus erklärt: Ausgangsaktivität ist die Berührung, der unmittelbare, suchende Kontakt zwischen dem Menschen und dem Kunstobjekt. Subjekt und Objekt begegnen sich, das Objekt leistet „Widerstand“, ist hart, vielleicht kalt und zunächst fremd. Die Berührung, die bewegende Hand auf der Oberfläche, die Kontakte zwischen einem belebten und einem unbelebten Körper lassen langsam eine Gestalt entstehen. Tiefe, Umfang, Form, Oberfläche, Material werden zu einer Einheit, die wir als Gestalt beschreiben.
Genau so haben wir als Neugeborene begonnen, die Welt zu begreifen. Wir kamen mit einem Objekt in Kontakt, haben es gespürt und begonnen es zu „erkunden“.
Zu allererst wahrscheinlich mit dem Mund: die Brust der Mutter, bald die eigenen Finger, einen Schnuller, später die Rassel, die Nase eines Teddys. Wir lernten zwischen lebendig und leblos zu unterscheiden, zwischen dem, was sich bewegt und dem, was reglos bleibt. Die Lebewesen und die Dinge. Wir haben versucht, diese Dinge in Bewegung zu versetzen: anstupsen, dranschlagen, fallen lassen – aber, das haben wir bald gemerkt, dadurch wurden sie nicht lebendig.
Alles das lernten wir sensorisch oder motorisch, noch längst nicht mit Begriffen, wie die Sprache sie uns vermittelt. Wir spürten, hielten, ließen los, umfassten, nahmen immer wieder den Mund zur Hilfe, sammelten Oberflächen, Strukturen, Temperaturen, Materialien, Formen.
Mit diesen Erfahrungen, diesem erspürten Wissen von den Dingen können wir jetzt, als Erwachsene, allein durch das Sehen ganz viel von den Dingen um uns herum erfahren. Wir haben schon viel gelernt, wir können mit den Augen Oberflächen unterscheiden, ohne sie zu berühren. Eine hölzerne Figur ist für uns etwas ganz anderes als eine aus Bronze – allein schon, beim Hinschauen. Wie sehen die unterschiedlichen Oberflächen, wir sehen sogar das unterschiedliche Gewicht, das Material. Wir brauchen nicht mehr an das Objekt zu fassen. Manchmal aber würden wir selbst doch gerne heimlich daran langen, um uns zu vergewissern, um einen konkreteren Eindruck zu bekommen. Genau diesen konkreten Eindruck möchte ich beeinträchtigten Menschen gerne ermöglichen.
Umsetzungen
Ein Berufsleben lang habe ich mich für solche Menschen eingesetzt, für Menschen, die den unmittelbaren körperlichen Kontakt mit anderen Menschen brauchen, um sie überhaupt wahrzunehmen, die diesen Kontakt auch zu Objekten brauchen, um etwas zu begreifen. Tatsächlich begreifen, im ursprünglichen Wortsinn: tasten, fühlen, halten, umfassen.
Speziell beschäftigt mich die Frage, wie man Kindern diese Partizipation an Kunst ermöglichen kann. Wie schafft man für sie die Möglichkeit, der Kunst zu begegnen? Wie muss diese Kunst beschaffen sein, dass sie auch von Menschen erfahren werden kann, die andere Wahrnehmungen nutzen, als nur mit den Augen etwas anzusehen?
Vor Jahren habe ich für Kinder in einer italienischen Einrichtung für blinde und sehbehinderte, mehrfach beeinträchtigte Kindern eine Skulptur gemacht, eine Knospe. Die Birkenholzskulptur sollte Ihnen die Möglichkeit geben, zu erspüren: jetzt bin ich wieder genau hier, in diesem Haus. So, wie wenn wir in einer Eingangshalle eine bestimmte Statue, ein bestimmtes Bild wiedererkennen und wissen, das gehört zu diesem Gebäude, ich bin angekommen.
Ein zweites Kunst-Objekt aus Holz stammt von einem Ahornbaum, der einmal in unserem Garten gestanden hat und von dem ich ein Stück über viele Jahre aufgehoben habe. Ich hatte begonnen, es zu bearbeiten, ließ es dann wieder liegen, weil ich nicht vorankam. Jetzt, mit dieser Idee eines unmittelbaren „basalen“ Kunstobjektes, erzählte mir der Holzklotz auch, was er werden wollte.
Die Oberfläche ist ganz auf das Befühlen hin ausgerichtet. Unterschiedliche, feine Strukturen herausgearbeitet, natürliche Verwachsungen habe ich belassen. Das Holz bleibt gänzlich unbehandelt – wenn es jemand abschlecken sollte, ist das nicht schändlich. Es gibt Ecken und Kanten, aber die sind sanft abgerundet. Man kann sich nicht verletzen.
Man muss in diesem Objekt nichts Bestimmtes erkennen, man muss da nichts wissen, muss auch nichts verstehen. Einfach in Kontakt (= Berührung) kommen, spüren. So steht das Objekt ganz in der Tradition konkreter Kunst, es ist kein Abbild, keine Darstellung von etwas, es hat keine geheime Bedeutung, ist kein Symbol. Es ist, was es ist.
Ein schwerer Klotz aus Ahorn zum Ansehen für die einen, zum Befühlen, Spüren, Riechen für die anderen. Man kann ihn von seinem Sockel nehmen, der Messingstab ist nur ins Holz gesteckt. Dann kann man das Ganze umfassen, kann seine Schwere spüren, seine Temperatur, seine Stärke. Und vielleicht kann man in den Löchern und kleinen Höhlungen nach weiteren Eindrücken suchen.
Sicherlich wird das Holz, wenn tatsächlich viele Kinder- und Erwachsenenhände dar-überstreichen, sich verändern. Das gehört dazu – es sollen ja Kunst-Begegnungen sein, und die wirken immer wechselseitig. Das ist natürlich eine Herausforderung vor allem für alle KonservatorInnen in Museen, aber auch für die Kunstschaffenden selbst: wenn es durch die Hände ihrer Schöpferin Gestalt angenommen hat, wenn es „fertig“ ist, dann darf es niemand mehr berühren. Was bis zu diesem Moment ein kreativer Akt war, die Arbeit mit den Händen, ist jetzt ein destruktiver Akt. „Bitte nicht berühren“.
Das Objekt wird jedem direkten Kontakt entzogen – und genau das müsste man durchbrechen, wenn man Kunst für bestimmte Menschen, die mit schweren Einschränkungen leben müssen, einen Zugang zu Kunst eröffnen möchte.
Ich wollte mit meinen Arbeiten diesen Weg gehen, auch wenn ich sicherlich kein „Künstler“ bin, eher ein Dilettant, der Sachen machen kann, die zumindest für die gewerbliche Kunst schlecht möglich sind.
Ich folgte meinen wissenschaftlichen Einsichten der Jahrzehnte zuvor und versuchte daraus etwas zu machen.
Es entstand eine Stele aus weichem, hellen Pappelholz. Da kann man z.B. mit dem Rollstuhl ganz dicht heranrollen, kann die gewellte Oberfläche ertasten, kann vielleicht auch durch die Öffnung schauen, auf der anderen Seite ein vertrautes Gesicht erkennen. Mit beiden Armen kann man die Stele umfassen.
In einer Schweizer Einrichtung für taubblinde Menschen gibt es einen anderen Ahornklotz, kantig, auf den ersten Blick „schroff“, aber beim Befühlen erschließen sich weiche: leicht nach Innen gerundete Flächen, Brüche und Kanten, die zu neuen Flächen führen. Vielleicht doch eine Art „Wanderung“ durch die Bergwelt? Auch dieser Klotz lässt sich von seinem Sockel nehmen, man kann ihn auf den Boden legen und dann aus sicherer Lage heraus erkunden.
Die Mitarbeiterinnen eines Zentrums in Marseille haben sich für das große Treppenhaus ein Objekt zum Aufhängen gewünscht.
Ein Stück von einem Zwetschgenbaum wurde zu einer fließend glatten Skulptur, die sich sehr angenehm auf den Schoss legen lässt, deren schmeichelnde Oberfläche einlädt, weiter und weiter zuvor fühlen.
Und dort, in dieser Einrichtung gibt es einen großartigen Hausmeister, der sich überlegte, wie denn schwer motorisch und geistig eingeschränkte Kinder und Jugendliche an dieses Hängeobjekt wirklich nahe drankommen können. Er erfand einen Tisch, unterfahrbar mit dem Rollstuhl, so dass man ganz nahe an das Objekt kommt. Und man kann dieses sogar am Seil ablassen, es liegt dann auf dem Tisch, kann in den Arm genommen werden, kann mit dem Mund erkundet werden…
Ausblick
Es geht bei diesen Objekten nicht um Therapie oder Wahrnehmungstraining. Es geht um die offene Begegnung mit gestaltetem Material, um das ganz individuelle Entdecken von Reizvollem, Schönem oder auch von Überraschendem und Befremdlichem.
Ich würde mir wünschen, dass in jedem Kunstmuseum wenigstens ein Kunst-Objekt für alle betrachtet, befühlt, unmittelbar sinnlich erlebt werden kann: für Kinder, für alte Menschen, die nicht mehr gut sehen, für Menschen mit Sehbeeinträchtigung und eben auch für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen.
Der Kunstpalast Düsseldorf hat zu Beginn des Jahres 2024 eine Ausstellung des britisch-deutschen Künstlers Tony Cragg mit großen Skulpturen eröffnet. Die Ausstellung heißt auf ausdrücklichen Wunsch des Künstlers: Please Touch, bitte berühren. Und das ist in dieser Ausstellung nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Die Begegnung mit Kunst bereichert, lässt einen teilhaben am kulturellen Erbe der Menschheit.
Derzeit befinden sich solche „basalen“ Kunstobjekte von ihm in folgenden Einrichtungen:
Allgemeinen Sonderschule in Zams, Österreich
Andreas-Fröhlich-Schule in Krautheim, Deutschland
Schule des Wohnheimes für Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen in Karlsruhe, Deutschland
Zentrum Tanne für taubblinde Menschen in Langnau am Albis, Schweiz
Etablissement pour Enfants et Adolescentes Polyhandicapés Decanis in Marseille, Frankreich
Weitere Kunstobjekte sind z. Zt. in Arbeit.
Andreas Fröhlich war viele Jahre lang als Pädagoge im Rehabilitationszentrum Westpfalz in Landstuhl tätig. Nach seiner Promotion übernahm er eine Vertretungsprofessur an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz in Mainz, danach eine Professur an der pädagogischen Hochschule Heidelberg und bis zu seiner Pensionierung arbeitete er dann an der ehemaligen Universität Koblenz-Landau in Landau.
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