Il fait froid
[moving identity 3]
Leslie HuppertLeslie Hupperts neustes Werk ist ein Impuls der Gegenwartskunst zu einer drängenden, gesellschaftspolitischen Fragestellung: Menschen auf der Flucht. Die Arbeit wurde am KulturOrt Wintringer Kapelle erstmals gezeigt und ist Ausgangspunkt für eine Kooperation mit dem Kulturzentrum am Eurobahnhof in Saarbrücken. 2016 wird dort eine fortführende Ausstellung im Dialog mit weiteren Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam mit einem öffentlichen Diskurs stattfinden.
FlyerUnter dem Titel „Il fait froid“ hat Leslie Huppert eine etwa 10 m lange Papierrolle bemalt, die in der Mittelachse der Westwand vor dem zugemauerten Portal zu sehen ist. Die Rolle ruft die frühe Art und Weise, bedeutsame Botschaften auf Schriftenrollen festzuhalten und zu übermitteln, in Erinnerung.
Die gewählte Darstellungsform und ihre subtilen, szenischen Sequenzen haben eine ungewöhnliche Suggestionskraft, polarisieren im Raum, ordern Zeit, stellen beschütztes Wohlstandsleben auf den Kopf, verstören, machen nachdenklich, fordern zum Handeln – solidarisieren!
Die Dimensionierung und Position der Papierrolle unmittelbar gegenüber dem gebrochenen Weizenhalm, mit dem am „seidenen Faden“ hängenden Blatt (Die Grenzen des Wachstums, Hermann Bigelmayr 2011) ist bewusst gewählt: Die Grenze ist überschritten! Tausende sterben auf der Flucht ins rettende Musterhaus Europa. Jene, die es schaffen, droht der Überlebenswille zu erfrieren. Wie es weitergeht, bleibt in der Schwebe.
Il fait froid – es wird kalt, titelt folgerichtig Leslie Huppert und hält mit ungeschminkter Bildsprache dem Betrachter einen Realitätsstreifen vor Augen. Die Rolle wirkt wie ein konzentrierter Schnitt auf eine globale Wirklichkeit, die westeuropäische Wohlstandsländer lange Zeit verdrängt haben: zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg sind mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Not. Frieren werden die Menschen, die sich traumatisiert vom blutigen Krieg in Somalia, im Irak oder Afghanistan nach Europa durchgeschlagen haben, nicht nur weil der Winter in Europa einzieht. Kalt ums Herz wird ihnen auch, wenn sie ihre Sehnsüchte durch Sperren und Zäune zerbrechen. Warm werden im Sinne von sich – wertgeschätzt und sich sicher Fühlen – kann es Menschen nur dort, wo sie eine würdevolle Bleibe finden und willkommen sind.
Essen... zweifeln... gehen... Kampf... Erinnerung... Vision..., das sind nur einige der Gedankenblitze, die sich wie unendliche Telegramme über das Papier einen Weg über die Bilder bahnen. Gedanken von flüchtenden Menschen, die in eine Zukunft hinter einem undurchdringlichen Nebel ausloten wollen. Fast will es scheinen, als habe Leslie Huppert die Gedankenwelt der Flüchtlinge wie ein Medium empfangen, um sie über ihre Bildrolle zur Sprache zu bringen. Es ist eine Sprache der inneren Bilder, die sich nach außen drängen müssen, überzogen mit fließenden Texturen – spätestens auf den zweiten Blick überzeugend eindeutig – und das auch für jene, die vielleicht erst gar nicht verstehen oder lesen wollen, die am liebsten wegschauen würden.
Es sind jene Gedankenmühlen und Bilder, die sich in den Köpfen der Vertriebenen unablässig drehen und sich einfach nicht mehr abstellen lassen, die Leslie Huppert akribisch über Wochen mit feinen Zeichnungen und Texturen, teils coloriert oder laviert aufs Papier gebannt hat. Sie erregen bei flüchtenden Menschen – durch ständiges Haken schlagen – Schwindel, lassen taumeln, machen schutzlos. Wie eine Endlosschleife scheinen die Wortfetzen vom unteren Bildrand wieder nach oben zum Ausgangspunkt des Bildes zu springen. Bewusst setzt die Künstlerin den Lauf der Bilderkette nach oben, zum Ursprung der Flucht – einst kulturelle Wurzel und Heimat der Flüchtlinge.
Lässt man den Blick von oben über das Szenario streifen, entsteht der Eindruck, als würden die Blutspuren unzähliger Opfer und ein ständiges Querfeuer aus den Gewehren und Granaten das imaginäre Kollektiv der Flüchtlinge und ihre notgedrungenen Gedanken wie aufgescheuchte Hasen vor sich hertreiben, um sie zu Fall zu bringen. Ohne Todesangst flieht niemand ungeschützt über freies Feld und lässt in der Deckung die eigene Biographie hängen. Ein Spielzeughase auf Rollen, zum Hinterherziehen, symbolisiert die Kinder und Jugendlichen, die im Schlepptau ihrer Eltern, zuweilen mutterseelenalleine, aus der Ausweglosigkeit ihrer Kinderstuben entfliehen und traumatisiert in ein zunehmend überfordertes Europa gelangen. Angesichts fder großen Zahl der Flüchtlinge gehen die einzelnen Schicksale allzu leicht in den unübersichtlichen Zwischenwelten der Flucht verloren.
Die Bildfolge drückt daher folgerichtig nach unten in die Tiefe, ins Ungewisse und stellt unaufhörlich Fragen: Endet der Traum vom besseren Leben in Europa, an den Zäunen einer Festung? Und wie soll am vermeintlichen Sehnsuchtsziel das Erlebte bewältigt werden, wenn sich die unvorhersehbaren Gefahren der Flucht, Hunger, Demütigung und Gewalt unauslöschbar in die Seelen der Flüchtlinge gebrannt hat?
Was erwartet jene, die sich durchgeschlagen haben, wenn sie die Flüchtlingslager in den Städten und Dörfern erreichen? Ein Spalier von Fremdenfeindlichkeit, genährt von der Angst zu kurz zu kommen? Wohin rollt der Ball – das geliebte Spielzeug – hier jedoch eher als Symbol für die Fußtritte rechter Stiefel und das Irrlichten durch die bürokratischen Systeme Europas – teils unter menschenunwürdigen Bedingungen, ohne Perspektiven?
Wäre da nicht ein Hoffnungsschimmer, genährt aus dem Erinnerungsvermögen der Europäer an die eigenen Geschichten von Flucht, Vertreibung und Evakuierung. Deutschland ist sich der eigenen Vertreibungswelle, die 1933 ihren Lauf nahm, heute noch bewusster als vielleicht damals!
Wäre da nicht der Blick der Christen, die Fluchtbewegungen aus ihren religiösen Grunderfahrungen der Exodus-Erzählungen (Auszug aus Ägypten ins gelobte Land) von Kind auf kennen und ihn in der Gegenwart zur Verbesserung der Toleranz und Mitmenschlichkeit anwenden können.
Leslie Huppert bezieht Position, setzt sich selbst ins Bild, gegen Ende des Streifens mit Zeitungstüte als Tarnkappe auf dem Kopf und fragt: Was versperrt bei allem Wissen noch den Blick auf die Perspektive einer Einwanderungsgesellschaft, die deren Potentiale sieht, sowohl die ethischen als auch ökonomischen? Ist es die Angst in der Gemengelage die eigene Identität zu verlieren? Macht den Blick auf eine neue Leitkultur frei, das reinigt den Blick auf die Chancen der Begegnung der Kulturen in Offenheit, Toleranz und gegenseitiger Hilfestellung, scheint sie unter der „Tarnkappe“ zwischen den Zeilen der Zeitung zu lesen.
Schlussendlich lassen einem die „Gehörnten“ den kalten Schauer von rechts noch einmal über den Rücken laufen…
Fragen stehen im spätgotischen Raum der Wintringer Kapelle, die im 16. Jahrhundert selbst Schauplatz von Krieg und Flucht und schließlich Wüstung war, und diesen kalten Schauer als Widerhall im Gemäuer für alle, die es hören können, abrufbar macht: Muss uns stets das Desaster zu neuem Denken und Handeln zwingen? Was bleibt zu tun … welche Handlungs- und Gestaltungsspielräume hat jeder Einzelne? Wie kann ein Gleichgewicht zwischen kultureller Selbstbestimmung und Integration ausbalanciert werden? Welche Rahmenbedingungen gibt die Politik vor, damit eine solche Begegnung der Kulturen mit der Zeit Boden gewinnt und wachsen kann? Gibt es Modelle für eine humane Flüchtlingspolitik, die gleichfalls die aufnehmende Bevölkerung in unseren Lebensräumen nicht überfordert?
Die Bildsprache von Leslie Huppert hilft uns dabei, unsere Gedanken zu sortieren Gestaltungsprozesse einer neuen Leitkultur ganz persönlich in die Hand zu nehmen, zu reagieren: Fangen wir an! Jeder Einzelne ist gefragt. Wir schaffen das! Integration statt Ausgrenzung von unten nach oben.
Willkommen in Deutschland! Schön, dass Sie angekommen sind!
Leslie Huppert ist Trägerin des Kulturpreises für Kunst des Regionalverbandes Saarbrücken 2014
Die Künstlerin zeichnet sich durch ihre bewusste künstlerische Erforschung von Transformations- und Identitätsbildungsprozessen innerhalb unserer Gesellschaft aus. Durch einen internationalen Aufruf zu einer virtuellen Völkerwanderung thematisierte sie beispielsweise in ihrem Projekt „Virtual Residency“ europäische Transformationsprozesse der vergangenen Jahre und erzeugte eine kreative Migration von Ideen, Themen, Bildern und Motiven. Mit ihren zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucksformen gelingt es der Künstlerin immer wieder, Aufsehen zu erregen und aktuelle Auseinandersetzungen zu aktuellen gesellschaftsrelevanten Themen voranzutreiben. Dabei verknüpft sie in ihren Arbeiten Kunstformen der Konzeptkunst, der multimedialen Kunst/Medienkunst, der Malerei, der Fotografie und der Zeichnung zu einem künstlerischen „Gewebe“, das polarisiert und die Betrachter in ihren Bann zieht. Dabei verfolgt sie die Intention, gesellschaftsrelevante Kommentare zu liefern und Diskurse auszulösen.
Wer sich auf ihre Kunstprojekte einlässt, bemerkt, dass die Künstlerin aus intensiven Beobachtungen schöpft. Ihr Werk bezeichnet sie selbst als eine Verwebung von Kommunikations- und Kooperationsprojekten, die innerhalb der Veränderungen durch ihren künstlerischen Input erzeugt werden.
Auszug aus dem Votum zur Preisverleihung
Lebenslauf
Leslie Huppert
1990– | Studium der Freien Kunst an der HBK Saar, Malerei bei Prof. Bodo Baumgarten, Neue künstlerische Medien bei Prof. Ulrike Rosenbach und Prof. Jill Scott. |
1994 | Auslandsstudium am Nova Scotia College of Art & Design (NSCAD), Halifax, Nova Scotia (CA). |
1997 | Diplom, Meisterschülerin |
Preise, Stipendien und Auszeichnungen
1996 | Netzkunstausschreibung Vision 2000, ZKM, Karlsruhe, Lobende Erwähnung. |
1997 | Kunststudenten stellen aus – 12. Bundeswettbewerb, Preisträgerin Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn ; Saarländischer Multimediapreis, 1. Preis; Internetpreis der Stadtwerke Saarbrücken, 1. Preis; Förderpreis der Stadt Saarbrücken. |
2000 | CYNETart 2000, Dresden, Lobende Erwähnung Brainwash; Fotowettbewerb des Rhein-Sieg-Kreis 2000, Lobende Erwähnung. |
2002 | fremde heimat, dna-award, DigitalART Frankfurt/M., 2. Preis connect. |
2003/ | Saar-STIP, Stipendium der ständigen Vertretung des Saarlandes beim Bund in Berlin. |
2008 | 5. Marler Video-Installations-Preis Skulpturenmuseum Glaskasten Marl: Die meisten Unfälle passieren Zuhause (Installationskonzept). |
2009 | Residency „Tulipamwe“, International Artist Workshop, Okakarara (NA); Residency Artis den Bosch, s’Hertogenbosch (NL). |
2010 | Ideenwerkstatt KunstKommunikation, Kunsthaus Kloster Gravenhorst; Art Karavan International, Kunstkarawane durch Nordindien. |
2012 | Stipendium der Kulturstiftung Rhein Neckar Kreis in der Burgfeste Dilsberg |
2013 | Projektstipendium für „Virtual Borders – travelling Lightly“ von „Grenswerte“ |
2013 | Nomination für den Robert Schumanpreis |
Kunst am Bau Projekte
2013 | In der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken „Der perfekte (T)raum“ ist ein Projekt, das gemeinsam mit 7 Insassen durchgeführt wurde. |
2014 | In der Justizvollzugsanstalt Saarbrücken wurde ein zweites Projekt, „Balance“ gemeinsam mit 5 weiteren Häftlingen durchgeführt. |
Einzelausstellungen (Auswahl)
1997 | The Robe – eine Kommunikationsskulptur, (Installation und Internet), Johanneskirche Saarbrücken; Avatar 3, versteinert bis zu den Hüften (Netzprojekt), Internetgalerie der Stadtwerke Saarbrücken. |
1999 | Moving Identity (Multimediale Installation), Kunsthaus Essen; Städtische Galerie Neunkirchen. |
2003 | Closed Circuit (Internet- und Videoinstallation), pizzart.com, Projektraum in Köln (APC Galerie/u. Galerie art-buvette, Fribourg (CH). |
2006 | United I stand (Videoinstallation, Saarländische Galerie – Europäisches Kunstforum e.V., Berlin. |
2011 | EXPATRIATE – home sweet home, Stadtgalerie Saarbrücken |
Projekte und Tätigkeiten (Auswahl)
2001 | Gegenort – The Virtual Mine (internationales Medienkunstprojekt ehemalige Schachtanlage Gegenort, Neunkirchen) |
2004/ | Virtual Residency – Aufruf zur virtuellen Völkerwanderung ins Musterhaus Europa (internationales Medienkunstprojekt) Handwerkergasse – Weltkulturerbe Völklinger Hütte, Völklingen/Faux Mouvement – Centre d’Art contemporain, Metz (FR)/Galleria Bia a, Lublin (PL), im Rahmen von Luxembourg und Großregion – Kulturhauptstadt Europas 2007, HBKsaar |
2012 | Virtual Borders – travelling lightly (Internationales Video-Installationsprojekt in der Burgfeste Dilsberg Mai 2012 und August 2012 in der Saarländischen Galerie, Europäisches Kunstforum, Am Festungsgraben, Berlin), www.virtual-borders.net |
2013/ | Virtual Borders – travelling lightly. Im Rahmen von Grenswerte, ein Videoparcours durch die Euregio an der Deutsch/Niederländischen Grenze, www.virtual-borders.net |
2014 | Kulturpreis für Kunst des Regionalverbandes Saarbrücken |
Friedensgespräche
Unter dem Titel „Moving Identity“ hat Leslie Huppert 1999 – 2011 variable Installationen entwickelt, die an verschiedenen Orten für Betrachter zugänglich gemacht werden.
Ich beschäftige mich in diesem Teil des Projekts mit dem Thema Migration, sei es durch Flüchtlingswellen, die durch Kriege, Hunger und Armut ausgelöst werden oder durch freiwillige Migration aus wirtschaftlichen Gründen sowie aus Motiven der persönlichen Selbstverwirklichung.
Wir befinden uns in einer Zeit gewaltigen Umbruchs, die vielen Menschen Angst macht und Verantwortungslosigkeit, Gier und Rücksichtslosigkeit fördert, da viele sich nicht mehr mit ihrer Umgebung und ihrem sozialen Umfeld identifizieren, sondern im Wesentlichen für sich und ihre Kinder denken und handeln. Für mich ist es ein guter Ansatzpunkt, sich mit Fragen der eigenen Vorstellungen, den eigenen utopischen Konzepten und Ideen auseinanderzusetzen.
Leslie Huppert
Aus aktuellem Anlass werden zusätzlich zur Installation „Il fait froid“ am KulturOrt Wintringer Kapelle „Friedensgespräche“ gezeigt, die im Rahmen dieses Aktionsprogramms der Künstlerin aufgezeichnet wurden.
An einem Tisch sitzen sich zwei Personen gegenüber. Eine stellt Fragen, die andere antwortet. Die einfachen, fast kindlich-naiv anmutenden Fragen werden sehr reduziert und spontan gestellt und führen mit ihrer stark subjektiven Prägung in die Spannungsverhältnisse von Wirklichkeit und Utopie sowie von Machbarkeit und Unmöglichkeit.
Auf Fragen nach Frieden und Krieg reagiert die antwortende Person mit umfangreichen Überlegungen, verliert sich in der Unübersichtlichkeit und Komplexität des Themas. Im Bemühen um eine Lösung bleibt am Ende der Antwort nur Verwirrung.
Die Aktion fand 2011 in der Stadtgalerie Saarbrücken statt. Die Frage-Antwort-Aktion wurde während der gesamten Ausstellungsdauer mit verschiedenen Teilnehmern durchgeführt, wobei die Fragende immer die gleiche Person ist. Die Gespräche wurden von oben gefilmt und in der Installation je nach Raumsituation an die Wand oder auf einen Tisch projiziert.
Friedensgespräche