Heilige für Heute
Linda SchwarzZwischen der suggestiven Kraft der einstigen Heiligen von Wintringen und meinen Bildern der Heiligen von Heute besteht eine Wechselwirkung. Die Heiligen von Gestern geben eine Ordnung vor, sie leiten die Phantasie an, sie reizen zum Ausloten von Spielräumen, die ich als Ausgangssituation für meine eigene Arbeit endeckt habe.
Linda Schwarz
Prolog
Warum gerade Heilige für Heute? Die Künstlerin Linda Schwarz beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit der Neuinterpretation und Aktualisierung der Heiligen von gestern. Was ist an ihre Stelle getreten? Die heute in der Schlosskirche in Saarbrücken aufbewahrte „Wintringer Madonna“ repräsentiert anschaulich das hohe Niveau künstlerischen Schaffens, das einst in der Region gepflegt wurde, ebenso wie die zur Kapelle reduzierten baulichen Relikte des einstigen Prämonstratenserklosters. Ab 1800 dominierte die Schwerindustrie die Region für mehr als zwei Jahrhunderte. Die Wintringer Kapelle fristete in jener Zeit ein tristes Dasein als Scheune (die Heiligen „von gestern“ auf dem Dachboden abgestellt). Ende des 20. Jahrhunderts erhielt sie endlich als Kulturort eine neue, passende Funktion. Heute ist sie einer der wenigen Orte in der noch jungen, sich vermehrt als gemeinsamer Kulturraum definierenden europäischen (Groß)Region, an dem künstlerische Intervention und die Auseinandersetzung mit kulturellen Werten in ihrer Vielseitigkeit erwünscht ist. Damit trägt sie zur neuen Identität der Region – auch als touristisches Ziel – bei. Das Ausstellungsprojekt „Heilige für Heute“ ist als Symbiose aus Kunst, Architektur und Geschichte, aus öffentlichem und bürgerlichem Engagement ein überzeugender Beitrag zur Regionalentwicklung.
Eva Mendgen, Saarbrücken im Juni 2009
Heilige von Gestern
Vermutlich geht die Auswahl dieses Patroziniums auf das im Jahre 1135 gegründete Mutterkloster der Prämonstratenser in Wadgassen zurück. Die prominenteste noch heute erhaltene Heiligenfigur, die zur Ausstattung der spätgotischen Kirche in Wintringen gehörte, ist die aus Lindenholz gefertigte „Wintringer Madonna“. Sie ist wohl um 1480 entstanden und wird heute aus konservatorischen Gründen im Museum in der Schlosskirche in Saarbrücken ausgestellt. Diese spätgotische Holzskulptur ist ein seltenes Stück und bezieht sich stilistisch auf die lothringische und oberrheinische Kunst, die der Bildhauer Nikolaus Gerhaerts von Leyden maßgeblich geprägt hat.
Die „Wintringer Madonna“ hatte ihren Standort wohl auf dem Altar, möglicherweise aber auch auf einer der heute noch erkennbaren Figurenkonsolen. Vier dieser steinernen Konsolen befinden sich an den geschlossenen Abschlusswänden. Die restlichen Konsolen sind noch an den abgearbeiteten Quadersteinen an den beiden Längswänden des Chorjochs erkennbar.
Vor Ort erhalten ist außerdem ein Wandrelief aus Kalkstein, ein ganzes Bildprogramm aus dem 16. Jahrhundert, wohl eine Pilgerfahrt. Am oberen linken Bildrand ist die Heilige Maria erkennbar, flankiert von zwei Engeln in den Himmel aufgenommen.
Eine später, wohl im 17. Jahrhundert entstandene Heiligenfigur, der Heilige Antonius, befindet sich heute in der Pfarrkirche St. Agatha in Kleinblittersdorf. Eine Inschrift verweist auf die Herkunft des Heiligen aus der Wintringer Kapelle. Antonius, Vater des abendländischen Mönchtums, ist außerdem mit den Attributen eines (Jakobs)pilgers – dem breitkrempigen Hut und dem Pilgerstab – ausgezeichnet. Das Weltbild, das dahinter steht, ist die augustinische Vorstellung von unaufhörlicher menschlicher Pilgerschaft.
Bei den archäologischen Grabungen im Inneren der ehemaligen Prioratskirche von Wintringen ist neben dem kleinen Fragment eines Corpus Christi aus Terrakotta (wohl 17. Jahrhundert) eine weitere Heiligendarstellung zu Tage getreten, die ebenfalls auf Wintringen als ehemaligen Pilgerort verweist. Es handelt sich um ein barockes Silbermedallion in ovaler Form, ein Schmuckstück, dessen Vorderseite die stehende Mutter Gottes mit Kind, begleitet von zwei Engeln zeigt, und auf dessen Rückseite ein kniender, nicht eindeutig zu bestimmender Heiliger zu sehen ist. Aus dem frühen 18. Jahrhundert stammen vier weitere Heilige, die sich heute in der Kuchlinger Kapelle in Auersmacher befinden. Im Lagerbuch der Pfarrei Auersmacher ist zu lesen, dass der Pfarrer Friedrich Josef Mathey diese Figuren im Jahre 1819 mit Zustimmung des Besitzers des Wintringer Hofes, Wilkreuz, nach Auersmacher mitgenommen hat, um sie dort wieder den Gläubigen zugänglich zu machen: die Skulpturen waren zu jenem Zeitpunkt auf dem Dachboden der Wintringer Kapelle deponiert. Es handelte sich um die Mutter Gottes, einen Heiligen Paulus, einen Heiligen Petrus, sowie zwei weibliche Heilige und vermutlich eine Maria Magdalena, möglicherweise auch eine Heilige Anna (vermutlich beide 19. Jahrhundert).
Heilige von Heute – work-in-progress
Auf Einladung besuchte Linda Schwarz 2008 zum ersten Mal die Wintringer Kapelle. Sie stellte sich die Frage, welche(r) Heilige(n) im Hier und Jetzt in der Kapelle zuhause sein könnten. Bis Juni 2009 entstanden neun Holztafeln, deren Format auf jenes der markanten „Nischen“ im Mauerwerk – funktionslos gewordene Sakramentshäuser – abgestimmt und die dann mit räumlichem Bezug auf diese Nischen quasi als „Triptychen“ gehängt wurden. Die Tafeln nahmen die (nicht mehr präsenten) „Heiligen von gestern“ der Kapelle in neuer Interpretation wieder auf, gearbeitet wurde mit der ganzen Spannbreite handwerklicher und künstlerischer Mittel, von traditionell bis ultramodern. Inhaltliche Bezüge zur Gegenwart stellen aus Werbung und Tageszeitungen ausgeschnittene Titel und Textfragmente her, die auf die Tafeln collagiert sind. Regen die Heiligenfiguren quasi als alte Bekannte in neuer Interpretation zum Innehalten an, so sind es die geschickt kombinierten Texte, die eine individuelle Kommunikation zwischen dem Kunstwerk, seinem Betrachter und dessen Lebenskontext in Gang setzen und zum Schärfen eigener Gedanken herausfordern.
Linda Schwarz untersucht mit ihrer Arbeit eine Facette des Spannungsverhältnisses zwischen Heilig und Profan, Alltäglichem und Spirituellem. Sind Heilige vielleicht auch Menschen, die uns heute so ganz unauffällig begegnen und die ihre Botschaft mit ihrem Selbstverständnis zu einem sinnerfülltem Leben in sich tragen und weitergeben?
Für ein ganzes Jahr, bis zur Sommersonnenwende 2010, werden die Besucher am KulturOrt Wintringer Kapelle neue Einsichten und Seherfahrungen machen können.
Triptychon 1
Die drei kleinen Tafeln sind in Form eines Triptychons als optische Fortsetzung des Traufbeckens in der Westwand der Kapelle in ein zugemauertes Portal, das von einem Spitzbogen gerahmt ist, gehängt, links der Heilige Antonius, in der Mitte die „Wintringer Madonna“, rechts der Heilige Antonius seitenverkehrt.
Triptychon 2
Die beiden großen Tafeln zeigen die „Wintringer Madonna“ zweimal, einmal seitenverkehrt, gehängt sind sie in der Apsis, links und rechts des ehemaligen Lavabos.
Triptychon 3
Die beiden mittelgroßen Tafeln zeigen zwei weibliche Heilige, Maria als Himmelskönigin und die Heilige Anna (?), gehängt sind sie in der Apsis, links und rechts der ehemaligen Sakramentsnische.
Triptychon 4
Die beiden mittelgroßen Tafeln zeigen zwei männliche Heilige, Petrus und Paulus, gehängt sind sie in der Apsis, links und rechts des Wandschreins, einer Spolie unbekannter Herkunft.
Triptychon 1
Heilige für Tag und Nacht: Die Umrisslinien der Figuren und die Schriftzüge sind mit fluoreszierendem, grünem Pigment nachgezogen, sie absorbieren das UV-Licht und leuchten in der Dunkelheit
Linda Schwarz
Die Künstlerin Linda Schwarz, geb. 1963, studierte in Stuttgart, an der HdK Berlin und als Stipendiatin des Evangelischen Studienwerkes an verschiedenen Hochschulen der USA. Ein Jahr lang arbeitete sie bei der renommierten Kunstdruckerei ULAE (New York) mit Robert Rauschenberg und Jasper Johns. Schwarz verwendet und entwickelt neue experimentelle Drucktechniken, die sie mit konzeptionellen Bildgegenständen wie Schriftzeichen oder Handschriften von Musik und Literatur verbindet. Seit 1999 lebt sie auf Schloss Homburg bei Würzburg und seit 2008 bei Straubing.
www.lindaschwarz.deDr. Eva Mendgen
Die Kunstwissenschaftlerin Dr. Eva Mendgen, geb. 1959, schloss das Studium der Kunstgeschichte, Alten Geschichte und Vergleichenden Religionswissenschaften 1991 mit der Promotion in Bonn ab. Sie machte sich international einen Namen als Ausstellungsmacherin und Publizistin, zeichnete verantwortlich für das Buch zur Kulturhauptstadt Europas „Im Reich der Mitte / Le berceau de la civilisation européene – Savoir-faire, Savoir-vivre“ (Saarbrücken/Konstanz 2007). 2006 gründete sie das Kulturnetzwerk und Ideenlabor „regiofactum“.
www.mendgen.comLinda Schwarz und Eva Mendgen lernten sich als Lehrbeauftragte an der HBK Saar 1997 während eines Workshops für „Experimentelle Drucktechniken“ schätzen und arbeiteten bei der Realisierung des Ausstellungsprojektes per annum MMIX ein halbes Jahr lang eng zusammen.
O-Ton
Zur Textur von per annum gehört auch die Einbindung von Musikern, Interpreten, Fotografen. Isabel Gehweiler am Cello und Felix Hubert am Kontrabass haben die Arbeiten von Linda Schwarz mit eigenen Kompositionen und Improvistationen reflektiert.
In Kooperation mit dem AV-Medienzentrum des Regionalverbandes Saarbrücken wurden mit freundlicher Unterstützung des Leiters Hans Bender die Positionen der Künstlerin Linda Schwarz und Dr. Eva Mendgen sowie der beiden Musiker vor Ort aufgezeichnet.
Für per annum haben Philipp Simon, Kamera/