herbst – autumnus
KlangBildSkulptur
Die Wintringer Madonna
Zur ursprünglichen Ausstattung der spätgotischen Kirche in Wintringen gehörte die aus Lindenholz gefertigte Madonnenfigur, die heute im Museum in der Schlosskirche in Saarbrücken ausgestellt wird. Diese sogenannte „Wintringer Madonna“ entstand um 1480 und ist eine der wenigen erhaltenen spätgotischen Holzskulpturen aus der Saargegend. Der stilistischen Zuordnung nach bestehen Bezüge zur lothringischen und zur oberrheinischen Kunst, die in dieser Zeit wesentlich von dem bedeutenden Bildhauer Nikolaus Gerhaerts von Leyden geprägt wurde.
Die fein gearbeitete Marienfigur trägt das aufrecht sitzende Christuskind auf dem linken Arm. Sie ist mit langem Gewand und Umhang bekleidet, deren Faltenbildung starke formale Eigenständigkeit entwickelt, deutlich etwa an dem Mantelteil, der schildförmig vor dem Körper gehalten wird und so ein Gegengewicht zum Christuskind darstellt. Im Aufbau ist sie durch einen s-förmigen Schwung gekennzeichnet. Der Oberkörper ist nach hinten geneigt, wodurch sich das Kind sehr frei und eigenständig von ihr abhebt. Von der ursprünglichen farbigen Fassung der Skulptur ist nur noch wenig vorhanden. Die heute sichtbare Farbgebung ist nicht mehr die originale. Die restauratorischen Untersuchungen haben ergeben, dass der Umhang außen ursprünglich eine Polimentvergoldung hatte, der Umhang innen war mit Azurit, das Gewand der Maria mit einem zweischichtig aufgebauten Rot gefasst.
Anmutig und majestätisch verharrend, mit verhaltenem Lächeln in den maskenhaften Gesichtszügen, präsentiert die Wintringer Madonna in faltengeschwungenen Gewand und Mantel stolz ihren Sohn. Aufrecht und versammelt zeigt sich das Gotteskind auf ihrem Arm mit gelocktem Haar, segnender Hand – wonnig vital und von diesseitiger Güte.
Fäden erkennen
Die Ästhetik dieser Skulptur und die damit verbundene zeitgenössische Bildsprache ihres Erschaffers war am Nachmittag des 1. Oktober 2006 Gegenstand einer gegenwartsbezogenen Auseinandersetzung. Die eigens zu dieser Veranstaltung zusammengekommene Künstlergruppe Roland Kunz (Kompositionen, Countertenor, Keyboard), Bernd Wegener (Percussion), Andrea Denis (Malerei, Lyrik, Zeichnung) stellte sich dieser Thematik.
Die Bedeutung der Skulptur hat, wie auch der eigentliche Standort für den die Wintringer Madonna geschaffen wurde, im Laufe der Jahrhunderte eine große Wandlung erfahren. In der Gegenüberstellung von Musik, Lyrik und improvisierender Malerei, versuchte das Trio mittelalterliche Fäden wieder aufzugreifen, um sich dadurch dieser Skulptur anzunähern. Hierbei ging es Roland Kunz, Bernd Wegener und Andrea Denise um das Experiment des Sicht- und Hörbarmachens einer historischen künstlerischen Setzung. Mit ihren Interpretationen unternahmen sie einen Versuch, zwischen den künstlerischen Aussagen des Mittelalters und heutiger Kunstformen zu vermitteln.
Roland Kunz, der die Formation zu dieser Performance zusammenbrachte, ist u. a. bekannt durch seine Kompositionen, die immer wieder historische Zeitstrahle abtasten. In seinen Arrangements eröffnen sich Zeitschächte, die stellenweise auch ins Mittelalter zurückgreifen. Durch seine Art zu komponieren und zu singen erschließt er den Zuhörern imaginäre, bildkräftige Welten.
Die Zeit I von deiner Oberfläche I abgeblättert I lässt Wahrheit schauen I legt Wesentliches frei I wo Duldsamkeit I in dicken Lebensschichten I überdauert I reift dort I der Liebe Kraft I durch tiefste Nacht I und alle Tyrannei I Dein Blick I den Jahren lächelnd I standgehalten I lehrt Näherkommen I wieder finden I das Halten I wie das Gehen lassen I am letzten WendePunkt I der Liebe I sich in Versöhnung I gegenseitig I überwinden I Die Zeit
Bild/Lyrik: Andrea Denis, 1. Oktober 2006
Entschlüsselung
Spürbar gelang es dem Trio im Dialog, durch eine musikalische und zeichnerische Annäherung – bei der die KünstlerInnen ihre eigenen Erfahrungen und individuell formales Repertoire eingebracht haben – das in der Skulptur chiffrierte vor Ort wieder ein Stück weit lebendig zu machen und in die heutige Bild- und Klangsprache zu transponieren. Sammlung und Bewegung – Komposition und Improvisation – Intuition und Verstand wirkten so in einem dialektischen Verhältnis und schufen an diesem spätherbstlichen Nachmittag in der Wintringer Kapelle für einen Augenblick Berührungspunkte zwischen den Zeiten.
ROLAND KUNZ, SINGER, KEYBOARDER, SONGWRITER, GEBOREN 1960 IN SAARLOUIS I STUDIUM DER MUSIKWISSENSCHAFT, KUNSTGESCHICHTE UND LITERATURWISSENSCHAFT IN SAARBRÜCKEN I GESANGSSTUDIUM BEI MARIUS VAN ALTENA IN HOLLAND, BEI KARL-HEINZ JARIUS IN FRANKFURT I DIVERSE MEISTERKURSE U. A. BEI JOCHEN KOWALSKI, DAVID CORDIER, PAUL ESSWOOD U. A. I LANGJÄHRIGE MITWIRKUNG IM COLLEGIUM VOCALE GENT UNTER LEITUNG VON PHILIPPE HERREWEGHE UND IM BALTHASAR-NEUMANN-ENSEMBLE UNTER THOMAS HENGELBROCK I ZUSAMMENARBEIT U. A. AUCH MIT TOM KOOPMAN, GUSTAV LEONHARDT U. A. I ZAHLREICHE INTERNATIONALE TOURNEEN UND CD-AUFNAHMEN I BEGRÜNDER DER SAARLÄNDISCHEN FORMATION ORLANDO & DIE UNERLÖSTEN
ANDREA DENIS, BACHELOR OF ARTS (KREATIVE PÄDAGOGIK UND THERAPIE) I WOHNT MIT IHRER FAMILIE IN LEBACH UND ARBEITET DORT ALS INTERDISZIPLINÄRE KREATIVPÄDAGOGIN UND KUNSTTHERAPEUTIN, FREISCHAFFENDE BILDENDE KÜNSTLERIN UND LYRIKERIN I IM JAHRE 1996 GRÜNDET ANDREA DENIS „DIE KLEINE KUNSTFABRIK“ I IN IHRER INDIVIDUELLEN KUNSTSCHULE MIT EIGENER GALERIE UNTERRICHTET SIE KINDER, JUGENDLICHE UND ERWACHSENE IN GANZHEITLICH ORIENTIERTEN KUNSTKURSEN UND IN KREATIVWORKSHOPS I NEBEN IHREN GEDICHTEN SCHREIBT SIE AUCH TEXTE FÜR ROLAND KUNZ UND SEINE FORMATION ORLANDO & DIE UNERLÖSTEN I ANDREA DENIS IST MITGLIED IM KUNSTFORUM SAARLOUIS
Für das „Stundenbuch“ wurde KlangBildSkulptur in Kooperation mit dem AV-Medienzentrum aufgezeichnet. Kamera/Schnitt/Ton: Hans Bender, Daniel Fischer.
Am 15. November 2006 wurde in der Wintringer Kapelle unter dem Titel „Madonna Mystica“ mit den Kompositionen und Texten der Herbstveranstaltung eine CD von ORLANDO (Roland Kunz und Bernd Wegener) eingespielt. Diese CD enthält auch eine Videosequenz der Liveaufzeichnung. Die CD ist im Handel sowie bei den Veranstaltern erhältlich.
Info: www.newpast.de und pm.lupp@web.de