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winter – hibernus
Maßwerk
Das Maßwerk
In den Wandflächen der Wintringer Kapelle, die aus dem Chor und der Apsis der ehemaligen spätgotischen Kirche besteht, sitzen hohe Spitzbogenfenster, die ursprünglich durch steinerne, geometrisch gemessene Bauornamente unterteilt waren. Dieser ornamentale Fensterschmuck wird als Maßwerk bezeichnet und ist eine Erfindung der Reimser Dombauhütte kurz nach 1211. Während den archäologischen Grabungen an der Wintringer Kapelle wurden Reste dieser Maßwerk-Elemente sichergestellt.
Das Maßwerk, das „Gemessene Werk“, ein ausschließlich aus exakten Kreisbogen geometrisch konstruiertes Steinwerk, diente der Unterteilung und zugleich Vergitterung gotischer Fenster.
Das Maßwerk bildet mit dem profilierten Fenstergewände eine Einheit. Es besteht aus senkrechten Stäben (Stabwerk). Bei schlichteren Kirchenbauten, wie beispielsweise der ehemaligen spätgotischen Wintringer Kirche, ist dies meist nur ein mittig teilender Hauptstab. Oberhalb der Kämpferlinie befindet sich das eigentliche Maßwerk, das aus Kreisformen (Pass) und später aus geometrischen Figuren (Blatt und Schneuß) zusammengesetzt ist. Die eine Spitze bildenden Stöße der Pässe können in verdickten, häufig dreiblättrigen Nasen auslaufen.
Nach den Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg und dem Abbruch wurden nur Teile der Anlage, Chor und östliches Mittelschiffjoch des Langhauses als „Kapelle“ erhalten. Während dieser barockisierenden Umbaumaßnahme wurde wohl das Maßwerk der Kirchenfenster entfernt. Gleichzeitig wurden auch die Fenster nach unten verlängert und erhielten eine handgeschmiedete Sprossenkonstruktion, die verglast wurde.
Die aufgefundenen Reste des Maßwerks lassen vermuten, dass die Gestaltung des Maßwerks der Wintringer Kirche sehr artverwandt mit den gotischen Kirchen in der Umgebung war. Dies ist auch naheliegend, da die Steinmetze von Bauhütte zu Bauhütte zogen und die Modelle der Steinbearbeitung vielfach übertragen haben. Vergleichbare Maßwerkfenster sind an der Schlosskirche in Saarbrücken, an der Zettinger Kirche oder der Kirche von Fénétrange zu besichtigen.
Die Choreographin und Tänzerin Ilka von Häfen und der Fotograf, Zeichner und Performer Thomas Rößler kennen sich schon seit längerer Zeit. Eigens für den KulturOrt Wintringer Kapelle haben sie für die Abschlussveranstaltung verabredet, ein erstes gemeinsames Projekt für den Ort zu entwickeln. Bezugspunkt war das verlorene spätgotische Maßwerk der „Kapelle“. Inspiriert von der Geometrie und Dynamik des gotischen Maßwerks entwickelten sie in intensiver Vorarbeit eine Choreographie für ein Pas de deux. Radialsymmetrie und Bewegung waren dabei ihre Haupthemen, transformiert durch die Interaktion von Tanz als Bewegung im Raum und der Zeichnung als Bewegung der Hand und des Werkzeuges.
Auf der gemeinsamen Arbeitsfläche entstand während der Performance ein transitives und gleichzeitig ein bleibendes Kunstwerk, das nach dem Ende der Performance aus nächster Nähe betrachtet werden konnte.
Tanzen und Zeichnen gehören zu den ältesten künstlerischen Ausdrucksformen der Menschheit. In ihrem Zusammenspiel – unter Bezugnahme auf das zerstörte Bauornament der Gotik – wurde deutlich, dass diese Künste gleichsam archaische Riten vollziehen, die jene geheimnisvollen Räume erschließen können, an denen wir mit unserer Sprache scheitern.
ILKA VON HÄFEN ERHIELT IHRE AUSBILDUNG AN DER BALLETT-AKADEMIE MÜNCHEN (HEINZ-BOSL-STIFTUNG I DANACH FOLGTEN ENGAGEMENTS AM BAYERISCHEN STAATSBALLETT, TANZTHEATER ROSTOCK, BALLETT DER DEUTSCHEN OPER BERLIN UND AM SAARLÄNDISCHEN STAATSTHEATER I NEBEN ZAHLREICHEN CHOREOGRAPHIEN, DIE SIE FÜR DIE DEUTSCHE OPER BERLIN UND DAS SAARLÄNDISCHE STAATSTHEATER ERARBEITET HAT, IST SIE MIT IHREN STÜCKEN AUF VERSCHIEDENEN FESTIVALS VERTRETEN I SEIT 2006 ARBEITET SIE ALS CHOREOGRAPHIN UND TÄNZERIN
THOMAS RÖSSLE STUDIERTE KOMMUNIKATIONSDESIGN UND BILDENDE KUNST IN MANNHEIM, BOMBAY UND SAARBRÜCKEN I SEINE BEVORZUGTEN KÜNSTLERISCHEN AUSDRUCKSFORMEN SIND FOTOGRAFIE, ZEICHNUNG, RAUMINSTALLATION UND PERFORMANCE
Im Rahmen der Gesamtdokumentation Stundenbuch ist auch diese Abschlussveranstaltung in Kooperation mit dem AV-Medienzentrum aufgezeichnet worden.
Im Verlauf der Probearbeiten sind choreographische Skizzen in der Kapelle entstanden. Kohle bzw. Mischtechnik auf Papier, Auflage: 50 Expl. und 2 E. A., nummeriert und signiert. Die Skizzen sind als Bausteine zur Erhaltung der Wintringer Kapelle für 10,– € erhältlich. Info: pm.lupp@web.de