frühling – ver
Pèlerinage – mit den Augen pilgern
Miniaturen von Till NeuDer Raum soll nicht gestört, das heißt nicht durchschnitten, installiert oder möbliert werden. Die Leere bewahren. Den Charakter der gotischen Architektur nicht überformen. Die Wände mit Nischen und offenen Mauern nicht behängen. Keine großen Gesten, die den Rhythmus der Steine, Nischen, Pfeiler und Dienste antasten. Miniaturen!
Der Rest eines mittelalterlichen Sakralbaus, die Wintringer Kapelle, ist für einige Zeit mein Arbeitsplatz. Wie schön: ein leerer Raum, reich an Geschichte. Keine Liturgien, keine Geräte, kein Altar. Die Sandsteine des Mauerwerks sichtbar, die Fenster und Türen transparent. Wie waren die Wände einst bemalt? Vielleicht Skulpturen am Westportal? Vertreibung aus dem Paradies? Apokalypse?
Die „Kapelle“ heute: ein kostbares, leeres Gefäß. Die Heilsgeschichte wird nicht mehr gepredigt. Mit einer neuen Offenheit weckt der Bau Empfindungen für seine Geschichte. Er ruft Bilder wach, die sich mit Hoffnungen und Ängsten unserer Gegenwart verbinden. Ein Ort der Melancholie und Inspiration. Dorthin trage ich meine Miniaturen, so groß, dass unsere Augen an ihnen entlang wandern können, so klein, dass die Steinformate der Wände mit ihnen korrespondieren.
Meine Bilder erzählen von einer imaginären Pilgerreise quer durch die Zeit. Wahrscheinlich lag die Wintringer Kapelle an einem Jakobs-Pilgerweg, der von Speyer nach Metz und am Ende nach Santiago da Compostela führte. Alle durften pilgern: Gläubige und Ungläubige, Arme und Reiche, Frauen, Männer, Kinder. Damals sah man in der Pilgerfahrt auch ein Gleichnis für unsere Lebensreise. Wir begegnen dem Guten, dem Bösen, der Liebe, der Gewalt, dem Frieden und dem Unheil, dem Tod. Vielleicht einigen Gespenstern und flüchtigen Geistern, in unserer Nähe oder in weiter Ferne.
Auf zwölf Wandabschnitten sind ringsum 32 Miniaturen für jene Pèlerinage mit den Augen angebracht. Bilder mittelalterlicher Kunst und Zeichen unserer Zeit können gleichzeitig zu uns sprechen. Leere des Raums und intime Nähe zu den Bildern gehören zusammen...
Meine Arbeiten werden mit den Steinformaten und dem Wandflächen-Rhythmus korrespondieren. Zehn Abschnitte mit drei Nischen zähle ich ringsherum, ausgenommen die Westwand. Der Besucher könnte an der Wand pilgernd „lesen“ oder lesend „pilgern“. Es ist meine Chance: frei und rücksichtsvoll ortsbezogen zu arbeiten. Ich werde die „Kapelle“ schmücken...
Zur Ausstellung ist eine limitierte Druckgrafik „Der Traum vom Pilgern“ erschienen, die als Baustein zugunsten der Wintringer Kapelle verkauft wird. Preis: 50,– €. Auflage: 70 Exemplare. Format: 16 x 16 cm. Signiert und nummeriert auf Kupfertiefdruckbütten Hahnemühle, 300 g/qm. Ca. 30 x 42 cm. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Druckwerkstatt der HBK Saar.
Die Wintringer Kapelle heißt „KulturOrt“
Sie ist weder ein Sakralraum für praktizierende Christen, noch eine „neue Galerie auf dem Lande“. Sie steht inmitten einer vielfältigen, ökologisch orientierten Landwirtschaft, die mit der Lebenshilfe Obere Saar für Menschen mit Behinderung e.V. kooperiert. Insofern ist die „Kapelle“ in das reale Leben räumlich eingebettet, aber auf andere Weise vorzüglich „nützlich“.
Sie ist ein leerer Raum
Während draußen ökonomischer und ökologischer Austausch zwischen Menschen, Tier und Pflanze organisiert und Produktion geleistet wird, hält dieses Leben zwischen den Mauern der „Kapelle“ an. So wird es möglich, dass im Prinzip und im Einzelfall, eine in der Evolution für manche überraschend ausgeprägte Begabung des homo sapiens sich hier ausleben kann: Über Existenz und Endlichkeit nachzudenken, Ereignisse des Lebens zu befragen und zu kommentieren.
Der Ort der Aufführung jenes in Bild, Wort, Ton oder Bewegung transformierten Lebens und der Ort der begleitenden Diskurse, das ist der KulturOrt. Auch dort wird an den Fragen des Lebens und Überlebens „gearbeitet.“ Die christliche Heilsbotschaft ist nur fragmentarisch – fast nicht mehr lesbar, doch die feine architektonische Struktur des Teilstücks versinnlicht eine geglaubte Überzeugung. Mit ihrer unmittelbaren Ausstrahlung kann die schöne „Kapelle“ auch im 21. Jahrhundert Besucher anziehen.
Quelle und Refugium
In den letzten vier Jahren wurde sie aber vor allem deshalb von so vielen Menschen besucht (und hat Freunde gewonnen), weil der Stadtverband Saarbrücken mit der Stabsstelle für Regionalentwicklung ein beispielhaftes Konzept realisiert hat. Im Nachhinein klingt es so einfach, was zwölfmal ganz unterschiedlich gelang: Der KulturOrt Wintringer Kapelle war inspirierende Quelle und Refugium für Aufführungen zeitgenössischer Kultur. Das mittelalterliche Bauwerk wurde mit dem „Geist, der über die Mauer springt“, geweckt. Fremde und nahe Besucher schwärmten von dem kleinen Ort, mit dem die Bewohner der Region so tief verbunden sind.
Vielfalt der Ideen und die „wechselnde Sinnlichkeiten“ der vier mal vier Jahreszeiten anno 2004–2007 haben Kulturfreunde, Touristen, Wanderer und Passanten an den KulturOrt Wintringer Kapelle geführt.
Ein Funken Hoffnung mitten im übermäßig ökonomisch bestimmten Leben.
Till Neu, im Mai 2005