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sommer – aestas
Individuelle und kollektive Paradiese
Für jeden Menschen ist das Paradies ein anderer Ort, eine andere Idee, ein anderes Bild. Die sakralen Räume des Christentums sind Stätten einer jenseitsgerichteten Paradieserwartung, die kollektiv bestimmt wird durch bildliche Traditionen und die dennoch individuell geprägt ist.
14 Studierende der Hochschule der Bildenden Künste Saar unter der Leitung von Prof. Daniel Hausig und der Medienkünstlerin Claudia Brieske nahmen im Sommersemester 2005 den KulturOrt Wintringer Kapelle zum Anlass, um künstlerische Formulierungen zum Thema „Individuelle und kollektive Paradiese“ zu entwickeln. Die Verbindung zur Hochschulklasse von Prof. Daniel Hausig entstand auf Empfehlung der saarländischen Schriftstellerin und Kulturjournalistin Dr. Sabine Graf.
Auf Basis des für den Kulturort entwickelten Leitkonzeptes hatten sich die WorkshopteilnehmerInnen im Vorfeld in einem Projektseminar, das durch den Kunsthistoriker Dr. Andreas Bayer wissenschaftlich begleitet wurde, mit dem Bau beschäftigt und situative Arbeitsansätze für den Ort und dessen Umgebung entwickelt.
Die endgültige Realisierung der unterschiedlichen Arbeitsansätze erfolgte innerhalb eines einwöchigen Camps vom 10.–17. Juli 2005 direkt vor Ort an der Wintringer Kapelle. Schlafstätte war ein Zeltlager auf der Weide im Hofgelände. Die Kapelle, deren Umfeld und Bereiche der Wirtschaftsgebäude wurden zu Ateliers.
Im Zentrum des Workshops stand die Frage nach der Verortung einer gegenwartsbezogenen Kunst im Kontext des sakralen Baus und des Wintringer Hofs, der gegenwärtig von der Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung Obere Saar e.V. als Biolandhof bewirtschaftet wird. Die bildende Kunst eröffnete in diesem Kontext für die Künstlergruppe neue Sichtweisen auf den historischen Ort. Thematisiert wurden mit unterschiedlichen Medien verschiedene Aspekte eines ehemals mittelalterlichen Priorates der Abtei Wadgassen. (Prof. Daniel Hausig, Claudia Brieske)
Zum Abschluss des Workshops wurden die Arbeitsergebnisse im Rahmen eines Sommerfests an der Kapelle öffentlich vorgestellt.
Zu sehen war, bis spät in die Nacht, eine beeindruckende Werkschau von skulpturalen Objekten, Video- und Klanginstallationen wie auch Performances, Fotografien und Zeichnungen. Die folgenden Seiten umreißen die konzeptionellen, methodischen und assoziativen Gedanken der KünstlerInnen und erlauben im Nachhinein noch einmal einen Einblick in die Ausstellung „Individuelle und kollektive Paradiese“.
TeilnehmerInnen Ingo Bracke, Nathalie Cordier, Julia Glucharen, Barbara Herold, Mark Heydrich, Birgit Hower, Marcus Michael Käubler, Ireen Köpke, Dragana Pesic, Stefanie Quade, Denise Ritter, Margit Schäfer, Susanne Schorr, Nikolaus Schrot, Véronique Verdet
Apfelfelder, Raum_Boden_Apfel_Installation
(Äpfel verschiedener Sorten und Färbungen im Gewächshaus auf den Pflanztischen: Zwei Farbfelder aus je 7 x 7 = 49 Äpfeln an der Kapelle im Verlauf der Grundmauern: Reihung in der Breite von vier Äpfeln)
In seiner Bodeninstallation lotet Ingo Bracke die kontextbezogene Bedeutung des Apfels aus: Die Wintringer Hofgründung wird heute als biologisch ausgerichteter Landwirtschaftsbetrieb bewirtschaftet, in dem bereits im Mittelalter Äpfel angebaut wurden. Im Bereich der Gewächshäuser überwiegt die Konotation des Apfels als gesundes Lebensmittel. Im Umfeld der Kapelle kommt eher der Symbolgehalt der verbotenen Frucht aus dem biblischen Schöpfungsmythos zum Tragen.
Mein Bett ist mein Paradies
(Rauminstallation in der Scheune des Wintringer Hofes)
Ich sehe den Paradiesbegriff als solchen vom religiösen Kontext gelöst. Die Summe aller individuellen Paradiese ergibt für mich das kollektive Paradies. Elf Videostatements zum Thema individuelle Paradiese.
Des Himmels Blau
spiegelt sich in den Trümmern vergangener Leben und macht den Ort zu einem Himmlischen und jene, deren Körper aus Stein für begrenzte Ewigkeit dort von vergessener Sehnsucht berichten, zu Himmelskörpern.
Die Wintringer Kapelle, Labor für Paradiesforschung. Mittels Video- und Computertechnik erforschte ich, wie Rituale und Eingriffe in Raum und Zeit Wahrnehmung und Bewusstsein verändern, die Grenzen zwischen Realität und Imagination aufheben, um das Wesen des Göttlichen an den Ort zurückzuholen.
Ohne Titel
Video 3:27 min Loop DV PAL
Bei meinen Untersuchungen ließ ich Raumgrenzen durchbrechen, Immaterielles materialisieren. Den Menschen, ob einzeln oder im Kollektiv, konfrontierte ich mit seinen eigenen Grenzen und forderte ihn zum lautstarken Handeln heraus, bis ihm zur Belohnung seiner erfolgreichen Mühen das Paradies gewahr werden würde.
„Das Nest“
(Installation im Innenraum der Kapelle)
Mein Anliegen war das Spiel mit, auf den ersten Blick, unscheinbaren Materialien, die durch ein Thema, einen Titel, eine Aussage daselbst wieder neu in den Raum stellt und in ein anderes Licht gerückt werden.
wintringer kap
Der Apfel im Dunkeln
Die Videoinstallation thematisiert Besitz und Verfügbarkeit als Grundlage individueller und kollektiver Paradiese. Das Wunschbild ist größer als der Fetisch selbst.
Paradiesbaum
(Installation an der Außenwand der Kapelle)
Kabel und Lautsprecher bilden einen Baum, aus dem Stimmen verschiedener Vögel zu hören sind. Während die Außenwand den sakralen Raum abschließt, hebt die Installation die Trennung von Innen und Außen auf. Das Paradies wird hörbar und unbegrenzt. Zwei CD-Player, zwei Verstärker, Kupferkabel und Lautsprecher.
(Installation im Innenraum der Kapelle)
Ich kratze an der Oberfläche des Menschen, um hinter die Fassade zu sehen und an sein Innerstes zu gelangen. Das durch emotionsgeladene Gesichter ausgedrückte Seelenleben.
7 sünden
Grundlage der Klanginstallation ist eine Komposition aus den vielfältigen Klängen/ Geräuschen, die entstehen, wenn man einen Apfel langsam und genussvoll aufisst. (Krachen, Beißen, Kauen). Die Lautsprecher stehen auf sieben Holzsockeln, von denen jeder ein Schildchen mit Angaben zur Pflück- und Genussreife sowie zu Geschmack und Form unterschiedlicher, regionaltypischer Apfelsorten trägt.
Zuckerbaby
(Schaumzuckerbohnen/-püppchen auf Steinboden)
In Erinnerung an die bestatteten Neugeborenen im Inneren der Kapelle und die unbekannten und nicht getauften Kinder in der Außenanlage, legte Margit Schäfer zwei Rosetten aus, die vom Ostgemäuer in den Altarbereich hineinwuchsen. Die beiden Rosetten setzten sich aus unzähligen kleinen Schaumzuckerpüppchen zusammen, die zum Anlass der Kindtaufe in der hiesigen Region verschenkt werden.
Underwaterworld
(Videoinstallation)
Einem modernen Pilgerstrom gleich werden Touristen auf einem Laufband durch einen Unterwassertunnel aus Acrylglas unter dem Meer geschleust. Diese Videoaufnahme, aufgenommen 2004 im Urlaubsparadies Sentosa/Singapore von Margit Schäfer wurde von außen auf das zugemauerte Westportal der Kapelle projiziert. Bei Dunkelheit schien es so, als bewegten sich all diese Menschen langsam durch das zugemauerte Portal ins Innere.
Freier Sündenfall
(Videoinstallation in der ehemaligen Sakramentsnische in der Kapelle. Dauer: 1'44 (geloopt))
Eine Frau fällt. Sie fällt wieder und wieder. Am Ende blickt sie den Betrachter direkt an.
Atmosphärische VideoinstallaTion
Projektionen von bewegtem Wasser auf drei parallel hängenden Stoffbahnen. Der Raum wird durch die Installation physisch verändert und in eine beruhigende Stimmung getaucht. Mein Ziel ist es den Ort zu beeinflussen, aber auch mit ihm zu arbeiten, so dass sich der Betrachter in der künstlich geschaffenen Atmosphäre wohl fühlt. Die blaue Färbung der Videoaufnahmen und die meditative Bewegung des als Loops abgespielten Wassers schaffen eine völlig neue Wahrnehmung des Raumes.
Gewächshaus
(grün und rot besprühte Lautsprecher, digitale Soundcollage)
Die Klangkulturen sind digital nachbearbeitete Aufnahmen von Brausetabletten, Wassertropfen, Schreien einer Geburtshelferkröte und diversen anderen Soundscapes. Das Ergebnis suggeriert das Wachstum fremdartiger Pflanzen. Gedeihen hier paradiesische Blumen?